Freitag, 13. Juli 2012

Kein Zaubertrank

Wäre ich wie mein Spitznamensgeber Obelix als Kind in den Zaubertrank gefallen, hätte ich zeitlos Kraft im Überfluss. Weil das aber nicht der Fall ist, muss ich für einige Wochen die Burg verlassen. Aus dem Glashaus in München Burgbriefe zu schreiben, wäre Etiketten-Schwindel. Ob ich dort aus hoffentlich sommerlich geöffneten Fenstern Steine ins Sommerloch werfe , ist fraglich. - Obwohl meine Wut auf  europäische Volksvertreter und Euro-Jongleure grenzenlos ist.

Immerhin gibt es auch Gutes zu vermelden: Dass meine häufig gewählte Multi-Kulti-Thematik der Bayerischen Landeshauptstadt einen sich immer mehr zum  Positiven wandelnden Vorbild-Charakter beschert, hat jetzt auch sz-online festgestellt.

http://www.sueddeutsche.de/muenchen/integration-von-auslaendern-da-kann-ja-jeder-kommen-1.1406995


Ab Ende August gibt es dann wieder Burgbriefe.

Bleibt mir gewogen liebe Leser!

Donnerstag, 12. Juli 2012

Sperrmüll

Fortsetzung der regulären Burgbriefe


In der scharfen Kurve auf der Straße hinauf zu unserer Nachbar-Gemeinde lauert im Verborgenen ein kleines Naturspektakel. In Jahrtausenden hat dort der Bach der vom Ginster-Pass kommt, eine kleine Kette von Gumpen gebildet, die je nach Laune Gombi oder Laghetti genannt werden. Die Autofahrer konzentrieren sich natürlich auf die Passage und möglichen Gegenverkehr - genau wie die Radler, die den letzten Kilometer dieser lohnenden  Bergstrecke vor sich haben, oder  umgekehrt sich mit mehr als achtzig Sachen  auf der Talfahrt in den Grenzbereich ihrer dünnen Felgen begeben. Zudem wuchert eine Art dichter Dschungel, der die Sicht verdeckt, bis über den Straßenrand. Kurz, nur Eingeweihte kennen diesen Ort und wollen ihn auch nicht gerne teilen. Deshalb verbreiten sie bei Leuten, die auf der Suche nach einem besonderen Badespaß sind, gerne auch Horrorgeschichten von sich sonnenden Vipern und saufenden Wildschweinen.

Ich selbst habe besondere Erinnerungen an diese Naturschönheit, weil sie mich - ganz im Gegenteil - bei einer Berg-Erkundung in den ersten Jahren meines Hierseins vor schlimmeren Folgen bewahrt hatte. Damals konnte ich noch richtig trainieren und war an einem Herbst-Nachmittag mit Langlauf-Stöcken zu einem Geländelauf auf dem Bergrücken aufgebrochen. Weit oberhalb vom Scheitelpunkt der Straße war ich in das Kreuzfeuer einer Jagdgesellschaft geraten. Da ich dummerweise erdfarbene Trainingskleidung trug, befürchtete ich, mit einer Wildsau verwechselt zu werden. Ich fragte also einen der Treiber, welcher Weg für mich wohl am sichersten sei. Er wies auf einen breit ausgetretenen Trampelpfad, der nahezu senkrecht ins Tal hinunter führte und äußerst rutschig war.

Ich verstehe wenig von Jagd und Wildtieren, aber mit dem Spitznamen Obelix sollte man zumindest eine Wildschwein-Suhle erkennen, wenn man denn in einer landet... Die Suhle war mitten im Bach auf einer Art Plattform, von der das Wasser in undurchdringliches Grün hinunter rauschte. Aber auf der anderen Seite begannen ja schon die historischen und aufgelassenen Oliven-Terrassen. Seit vielen Jahrzehnten werden sie nicht mehr bewirtschaftet. Manche Trockenmauern ragen mehr als 15 Meter hoch und sind teilweise auch schon eingestürzt. Dann bilden sie bis zum oberen Rand der Nächsten Terrasse einen kaum auszurechnenden, überwucherten Rutschkeil, der die Passage eventuell sogar unmöglich macht.

Auf so einem passierte mir dann das Missgeschick: Weil ich glaubte die grüne Umkränzung sei stabil genug, trat ich drauf und verlor sofort den Halt, denn es handelte sich tatsächlich um von Parasiten durchgrüntes Dornengestrüpp. Glück im Unglück: Es fing mich auf und umklammerte mich an den Beinen. Anderenfalls wäre ich sofort tot gewesen. So hing ich mit dem Kopf nach unten etwa acht Meter über dem ausgewaschenen Sandsteinrand einer der oberen Gumpen.

Wie ich es geschafft habe, mich in eine Position mit den Füßen nach unten zu manövrieren ohne abzustürzen, kann ich nicht mehr in Erinnerung rufen. Wie ich auch nicht weiß, wann ich meine Pulsuhr samt dem dazu gehörigen Brustgeschirr gesprengt habe; das alles aber mit fest an die Handgelenke gezurrten Langlauf-Stöcken!

Ich wusste, dass ich in die schiefe Ebene springen musste, wenn ich überhaupt eine Überlebenschance haben wollte. Ich riss an den Ranken, die Zentimeter um Zentimeter nachgaben, ehe sie dann doch plötzlich rissen. Urinstinkte, die mich ein Leben lang vor schweren Ski-Verletzungen bei Abfahrtsstürzen bewahrt hatten, schienen sich  zu automatisieren. Ich kam kurz auf die Füße und stieß mich mit einem Hecht ab, obwohl ich keine Ahnung hatte, wie tief die Gumpe sein würde. Aber das Wasser schlug über mir zusammen, und der Kälteschock brachte mein Adrenalin wieder auf Normalpegel.

Aus Hunderten von kleinen Wunden blutend, stellte ich fest, dass ich von einer Falle in die nächste geraten war. Das Wasser aus der Gumpe verschwand im nächsten Abgrund und rund herum war wieder Dornengestrüpp. Als ich es irgendwie durch das Gewucher zur nächsten freien Stelle geschafft hatte, raschelte es heftig neben mir.

Ein mächtiger Schweißhund, der der Jagdgesellschaft wohl ausgebüchst war, versperrte mir diesen Ausweg. Er musste das Blut gerochen haben. Was man so von Mastinos hört, standen meine Chancen nicht gerade günstig. Also setzte ich mich erst einmal hin und erprobte mein maues Italienisch an dem Ungetüm. Aus dem heiligen, aus allen Wunden blutenden Sebastiano wurde also ein Tiersprache seufzender San Francesco. Aber das funktionierte. Denn anstatt mich zu zerfleischen, fing das Muskelpaket an, mich zärtlich mit seiner ellenlangen Zunge abzuschlabbern.

Eine gut anderthalb stündige Schicksalsgemeinschaft war so entstanden. Auch wenn ich nicht jedem Durchschlupf meines vierbeinigen Wegweisers folgen konnte, kam er doch auf Umwegen immer wieder zu mir, um sich nach meinem Befinden zu erkundigen. Zwei, drei Gumpen suchte ich noch auf, um im kalten Wasser meine Blutungen zu stillen. Als ich die Straße schon sehen konnte, bellte der Jagdhund zweimal und verschwand genauso geisterhaft, wie er aufgetaucht war. Ich hätte vielleicht an eine phantastische Sinnestäuschung aufgrund der Stress-Belastung geglaubt, wurde aber dann von der rauen Realität belehrt: In der Kurve stand ein aufgelöster Hundehalter mit einem Sprechfunkgerät. Als er mich in meiner Eigenschaft als blutender und halbtoter Waldgeist auf sich zu straucheln sah, fragte er nicht etwa, ob er mir helfen könne, sondern herrschte mich an: "Dov'è mio cane?"

Angesichts der Lupara in seiner Armbeuge zog ich ein gezischtes "Arschloch!!!" dem ihm  verständlicheren "culo!!!" vor und erbrach mich über das jenseitige Brückengeländer. Dabei erlebte ich das eigentliche Drama dieses Tages: In Reichweite der Straße war der herrliche Torrente zugeblockt mit Dutzenden ausrangierter Waschmaschinen, Kühlschränke, halber Autos und sonstigem Wohlstandsmüll...

Das Erlebte liegt jetzt mehr als ein Jahrzehnt zurück. Mittlerweile gibt es Gemeinde-Verordnungen mit drastischen Konsequenzen für Sünder. Rifiuti ingombranti - wie Sperrmüll auf Italienisch heißt - muss jetzt in dem nagelneuen Wertstoffhof, den die Gemeinde für viel Geld gut zugänglich im Tal an der Schnellstraße samt riesen Büro eingerichtet hat. Wer den mittlerweile gesäuberten Torrente noch wie ich in Erinnerung hat, geht gerne zur Gemeinde und holt sich bei Teodora die notwendigen Papiere für das legale und kostenfreie Entsorgen. (Was an heißen Tagen gerne mal mit der Darbietung ihres prachtvollen Dekolletés belohnt wird - als Argument für Machos, das Richtige zu tun...)


Aber den Burggeistern hier oben haftet da diesbezüglich wohl immer noch etwas ewig Gestriges an. Als ich neulich auf dem Weg zum Auto mit einer Schubkarre voller kaputter Elektrogeräte beim alten Franco vorbei jongliere, hält der mich doch für komplett durchgeknallt, weil ich zum Wertstoffhof will: "Stell's doch an die Mülltonnen!"
Tatsächlich standen da schon ein alter Fernseher, ein mannshoher Kühlschrank und zwei Auto-Batterien. Die Müllfahrer der Gemeinde sind eigentlich angewiesen, die Sachen stehen zu lassen.Aber in diesem Ambiente, noch dazu zur Ferienzeit, sind sie dann doch immer wieder einmal nachsichtig


Ich denke da lieber an den Torrente, an das Jahrzehnt, das ich seinen kühlen Gumpen verdanke und fühle mich nach dem Besuch des Discarico einfach  nur gut.

Dienstag, 10. Juli 2012

Abbiamo una crisi

Castellinaria Kapitel 16


  Im Frühjahr 2009 saß Bernhard Kleiner auf seinem Lieblingsplatz, der Zitronenlaube auf der Zinne im Garten, und wartete zum zweiten Mal in seinem Leben auf die Russen. Diesmal aber wohl doch vergeblich. Und das war gut so! 
  So viel war seit jenem denkwürdigen Abend passiert, an dem er Goerz das Du angeboten hatte. Sie waren wirklich noch bessere Freunde geworden. Einem geheimen, unausgesprochenen Regelwerk folgend, rückten sie sich nie zu nah auf die Pelle. Aber beide sprangen ohne zu Zögern auf und ließen alles stehen und liegen, wenn es galt, Hilfe zu leisten oder für ein ernstes Gespräch bereit zu stehen.
  Sie waren zum Fischen aufs Meer hinaus gefahren, hatten am Haus herum gebastelt und herrliche Abende beim Kochen und Weinverkosten verbracht.
   Goerz hatte Kleiner endlich die Geschichte von Sali Besnik erzählt, und Kleiner die das Bild ergänzenden Dramen mit seinem kürzlich verstorbenen Schwager Lenz geschildert. Sie hatten gemeinsam diverse Kämpfe mit der regionalen Kataster-Bürokratie ausgefochten, weil seit deren Umstellung auf Computer kaum einer noch auf Anhieb sagen konnte, wofür und wie viel Steuern zu zahlen waren.
  Für zwei milde Winter und angenehm temperierte Frühlings- und Sommerperioden führten Sie das einst erträumte Leben von Edelrentnern. Aber dann war Bernhard von einem medizinischen Routine-Check in der Heimat nicht gleich zurückgekommen.
  Krebszellen in seiner Prostata hatten vollkommen unbemerkt bereits derart metastiert, dass er direkt aus der Praxis auf den Operationstisch  geschickt worden war. Der Totaloperation folgte eine langwierige Chemo, die nur ein Mann von seiner Willenskraft und Athletik derart stoisch  und äußerlich unversehrt wegstecken konnte.
 Goerz hatte sich – als ob der Sensenmann synchron arbeiten wollte – bei seinen Recherchen ungeahnt ebenfalls in Lebensgefahr sowie aus dem seelischen Gleichgewicht bringen lassen. In der Folge musste er sich der schwersten Depression seines Lebens erwehren. Ein im Nachhinein lächerlich dramatisiert erscheinender Selbstmordversuch mit seinem Boot schlug fehl. Und so schämte er sich unendlich, als er seinen tapfer kämpfenden Freund in wirklich  tragischer Lebenssituation unverzagt wieder traf.
  Innerliche Verletzlichkeit nach außen nicht zulassend, gingen die beiden fortan in einer rüden Knarzigkeit und einem überzogenen Galgenhumor miteinander um. Goerz, der Literaturbeflissene, hätte  das als „hemmingwaysche Macho-Scheiße“ eigentlich verachten sollen. Aber es half ihnen über die Anflüge von Hilflosigkeit hinweg

  Dass er sich unten herum neu orientieren musste, und dass der Harnblasen- und Schließmuskelbereich bei diesem Treppauf Treppab in Castellinaria erniedrigend zum Versagen gezwungen wurde, muss für Kleiner in den Monaten der Rekonvaleszenz  die Hölle gewesen sein. Goerz, jeglicher Behinderung anderer gegenüber verkrampft, überwand sich erstaunlicher Weise. Er überspielte zunehmend die eigene Unsicherheit im Umgang mit dem Freund, indem er ihn vielleicht mehr antrieb, als gut war. Das zwang ihn dann, Kleiner immer  wieder einzubremsen. Weil der kaum, dass es ihm besser ging, wie früher gewohnt, zupacken wollte. Wenn  er Bernhard gar nicht mehr Herr wurde, petzte er das unverfroren Traute, die mittlerweile wie eine Schwester für ihn war. Ja ihm Gelang es sogar, dass Don Bernardo nach geduldigem Zureden einen knorrigen Spazierstock aus poliertem Olivenholz als Absicherung gegen Fehltritte akzeptierte.
 
  Eigentlich machte dieser Stock erst den wahren Don aus Kleiner. Denn fortan erteilte und verteilte er Belehrungen und Hinweise bautechnischer Art, indem er mit diesem auf Schwachstellen, Pfusch oder versteckte Mängel deutete. Das gab ihm irgendwie eine Respekt einflößende Distanz.
  Indem er niemanden mehr zur Seite schob, um immer gleich selbst Hand anzulegen, wuchs ihm sogar  noch mehr Kompetenz und Souveränität zu.
  Der knotige Stock wäre aber beinahe  auch noch zur Schlagwaffe geworden, als dieser junge Mann im schwarzen Designeranzug begann, mit seinem Klemmbrett durch die Gassen zu spazieren.
  Der Schweizer Jungmann in Diensten einer diffusen Touristik- und Immobilien-Holding schwadronierte mühelos vielsprachig durch die historischen Gemäuer und machte Angebote, die eigentlich niemand ablehnen konnte. Er war bestens orientiert über Besitzverhältnisse, Nutzungszeiträume und die Standards bei der Ausstattung diverser Häuser. Er wirkte wie der Frontsänger einer Boygroup mit seiner Gelfrisur und den blondierten Haarspitzen, und gerade die etwas älteren Nordeuropäerinnen verspürten bei seinem Scharwenzeln ein Prickeln in tot geglaubten Körperregionen. Neben den unausgesprochenen, von Testosteronfülle begleiteten Versprechungen war aber auch das rein geschäftliche Angebot verlockend:
  Verkauf des Anwesens zu einem Preis erheblich über aktuellem Marktwert und geknüpft an ein noch fünf Jahre geltendes Gratis-Wohnrecht für insgesamt jeweils acht Wochen pro Jahr; allerdings außerhalb der Hauptsaison-Monate.
  Als Traute dem smarten Jüngling erstmals die Tür aufmachte, war sie zuerst äußerst abweisend und misstrauisch, aber angesichts der jüngsten Ängste, die sie um ihren Bernhard ausgestanden hatte, war ihr das Ganze doch des Überlegens wert. Zumal Traute – was sie Bernhard bislang verschwiegen hatte – auch einen Grund hatte, die ihnen noch verbleibenden gemeinsamen Tage in Castellinaria als gezählt zu betrachten:
  Weil sie sich so gefreut hatte über die quasi normalen Werte ihres Mannes hatte sie auf der Sagra zu Ehren der Santa Madalena auf dem Dorfplatz des Capoluogo hemmungslos Masurka getanzt. Franco hatte sie mit seinem großen Professorenkopf den Takt vornickend, herumgewirbelt, was seine Schweißdrüsen hergaben, - sein Deo allerdings nicht hielt. Aber wer wird schon die Nase rümpfen, wenn die Live-Band unermüdlich schmalzt und die Juniluft selbst um Mitternacht noch dreißig Grad hatte? Zudem entspannte der eiskalte Vermentino Trautes immer noch außerirdische Schönheit. Die fortgeschrittene Osteoporose der Garbogöttlichen allerdings ließ sich nur bis zur ersten längeren Pause betäuben. Den Wallfahrerweg hinauf nach Castellinaria schaffte sie im Morgengrauen nur, weil sie zu beschickert war, um die Schmerzen zu spüren. Den restlichen Sommer jedenfalls konnte sie ihre liebgewordene Gartenarbeit nur noch unter unmenschlichen, heldinnenhaft  unterdrückten Schmerzen verrichten. Was letztlich auch dazu führte, dass sie immer häufiger das verlockende Angebot des Schweizer Akquisiteurs zur Sprache brachte.
  Don Bernardo von neuer Lebenskraft beseelt, wollte von alldem nichts wissen und geriet in der Folge derart in Wut, dass er dem jungen Mann eines Tages auflauerte und ihn wild seinen Olivenholzstock schwingend über die Piazza trieb. Der Charmebolzen, derlei rüde Reaktionen bislang bei seiner erfolgreichen Akquise nicht gewohnt, ließ vor Schreck Klemmbrett und Präsentationsmappen fallen. Goerz sammelte alles ein, ging aber weder dazwischen, noch ergriff er Partei, denn schon auf den ersten Blick erkannte er, dass hier etwas ganz Großes im Werden war.
  Goerz nötigte die beiden Streithähne auf die Steinbank an der Fontana. Gab das persönlich vertraulich wirkende Klemmbrett als erstes zurück. Allerdings nachdem er schon registriert hatte, dass einer der Ersten auf der Liste der Verkäufer Francos Enkel Marco war. Eine der Mappen hatte er für sich behalten und begann sie zu studieren. Nicht ohne vorher mit einer herrischen Geste jedweder weiteren Gemütsäußerung der Kampfhähne  Einhalt zu gebieten.
  Der Profi erkannte nicht nur die perfekte Präsentation, sondern auch den genialen Ansatz hinter der Idee:
  Auf dem Deckblatt war ein Screenshot von Google Earth zu sehen. Er war mit einem Graphikprogramm derart brillant nachbearbeitet, dass Goerz in der Draufsicht von Castellinaria deutlich auch seine Dachterrasse samt Schirm und Markise erkennen konnte. Don Bernardos hängender Garten wirkte aus der Satelliten-Perspektive so spektakulär wie in natura. Als Goerz ihm das zeigte, schien sich die wütende Spannung für einen Moment zu lösen.
  Auf den folgenden Seiten wich die Google-Darstellung immer mehr einem architektonischen Relief-Plan vom zukünftigen „Castello in Aria“. Die großen Häuser des Ortes wurden außenarchitektonisch vereinheitlicht als Residenzen hervorgehoben, die kleineren als Ferien-Appartements. Die im Privatbesitz verbleibenden Häuschen der Einheimischen, die nicht verkaufen wollten, waren mit Personaggio betitelt, Personal!
  – Es würde also auch um neue Arbeitsplätze gehen, und wohl deshalb hatte auch die Gemeinde ohne Widerstand ihr Legat am Anwesen der ehemaligen Klosterschule abgetreten. Die hatte ja mangels Kindern  seit den 1970ern immer nur leer gestanden. Das Atrium mit  Kreuzgang und den hohen Schlafsälen sowie den beiden Spielplätzen an der Burgmauer firmierte auf den Prospektseiten bereits als künftiges Kulturzentrum mit Galerien und Bühnen für Musik- und Theater-Darbietungen. In Standaufnahmen von Computer-Animationen wurden die Gassen mit  elektrischen Golf-Carts befahren. Sämtliche Unstimmigkeiten an den Fassaden waren virtuell bereits angeglichen. Das galt vor allem für die frischen Farben aller Häuser, die im Plan einzigartig harmonierten und ganz besonders für das Castello.
  Goerz sah den Hinweis auf eine interaktive Website und bat die beiden Männer über die Piazza spontan in sein Arbeitszimmer, wo er seine Computer online hatte:
  Die virtuelle Fahrt durchs Dorf samt Anreise – oder sollte man besser sagen Anflug – war noch spektakulärer. Der Cyber-Hubschrauber hob am neuen – hier digital schon fertig gestellten - Jachthafen zwischen Oneglia und Porto Maurizio ab, umrundete den mittelalterlichen Kirchberg und kletterte hoch über den Monte Aquarone und das Imperotal, um die Totale über die Valle d’Olio zu öffnen. Im Landeanflug auf  den Heliport des zukünftigen „Castello in Aria“ nahmen die Cyberspace-Reisenden zur Kenntnis, dass der Ort hier schon von einem Par-3-Neunloch-Golfplatz umgeben war. In der Realität würde der wohl nur von einem fanatischen Freak  mit grenzenlosen Finanzen aus den Fasce und Oliven-Terrassen heraus gegraben werden können. Aus den beiden Spielplätzen der Klosterschule war eine römisch anmutende Pool- und Spa-Landschaft geworden…
  Am Hubschrauber-Landeplatz oberhalb und ein wenig abseits des Ortes in einer rundum geschützten Bodensenke (sie wurde Lardo - also Speck - genannt, weil  dort vor Zeiten ausgewilderte Hausschweine lebten) wurden die Gäste der Website mit einem Golf-Cart zum Einchecken ins Schloss gebracht. Es diente hier als stilvolles Verwaltungszentrum vor dem das animierte Daten-Ebenbild des jungen Schweizers, auf Mausklick  einen kleinen Einführungsvortrag in verschiedenen Sprachen hielt. Als die Fahrt dann weitergehen sollte, stoppte Goerz sie per Mausklick. Sein Blick verharrte auf dem Haus der Francesa – also seinem.
Dort hatte die Text-Einblendung das „Zentrum für Werbung und Kommunikation“ angesiedelt.
  „Das ist mein Haus“, bellte er empört in Richtung des Schweizer Smartys.
  „Das wissen wir. Wir wissen auch, dass es Ihnen wirtschaftlich nicht so gut geht, und der Job wäre ideal für Sie bis ins hohe Alter. Sie bräuchten nicht zu verkaufen und wir zahlten Ihnen noch dazu Büro-Miete…“
  „Also mir reicht es jetzt“, knurrte Kleiner und verließ wechselweise wachsbleich und wutrot werdend das Haus seines Freundes. In der stets zur Piazza hin offenen Tür drehte er sich noch einmal um und sagte ganz leise und eisig:
  „Ihr könnt kaufen, wen und was ihr wollt. So lange ich hier lebe, bekommt ihr mein Haus nicht!“
  Goerz indessen war bestürzt, dass er zu so einer drastischen Aussage spontan nicht fähig gewesen wäre. Die Verlockung, doch noch einmal im Leben wichtig zu sein und für den Austrag hier oben auch noch bezahlt zu werden, drang in seine Nervenbahnen wie ein schleichendes Gift. War nicht „in den Stiefeln zu sterben“ immer eine seiner Visionen gewesen?
 
  Offenbar weil er sich nicht sofort auf dessen Seite geschlagen hatte, war das Verhältnis zwischen Johannes und Bernhard - unausgesprochen zwar – in den restlichen Sommer- und Herbstwochen belastet. Kleiners Stimmung wurde natürlich nicht besser, als er erfuhr, dass auch Häubel sein Anwesen am unteren Ortseingang verkaufen wollte. Der Sindaco hatte ihm das Baurecht auf einer seine Fasce eingeräumt, und die Holding würde ihm zum Selbstkostenpreis dort eine Villa hinbauen, so dass noch ein ordentlicher Teil des Verkaufserlöses für die Enkel übrig bliebe. Außerdem war ihm das exklusive Recht angeboten worden, mit seinen und den Produkten anderer, einheimischer Bauern einen gesponserten  Bioladen an der Piazza zu betreiben.
  Die größtmögliche Wut und das absolute Stimmungstief lösten jedoch bei Bernhard Kleiner die weiteren Recherche-Ergebnisse seines dann wieder Freundes aus.

  Der touristische Multi  - so  hatte Goerz herausgefunden - wurde von einem Konsortium namhafter Schweizer Banken getragen, die aber offenbar wiederum nur die Geldmacht eines in London ansässigen russischen Oligarchen (dessen Riesen-Jacht samt Helikopter bereits im Hafen lag) kaschieren durften. Der trat natürlich zunächst nicht einmal annähernd selbst in Erscheinung. Goerz kam nur drauf, weil er im Laufe früherer,  letztendlich lebensbedrohender Recherchen schon einmal auf die Namen zweier auch in diesem Umfeld wieder beteiligter Institute gestoßen war. Das eine war eine Art Islamische Bank für Wiederaufbau mit Firmensitz in Dschidda und das andere ein Private Equityfund, der auf Grand Cayman in der Karibik ansässig war. Trotz oder gerade wegen der internationalen Immobilien-Krise und der Liquiditätsengpässe selbst größerer Banken wurden in diesem Dreieck während der folgenden Monate Liegenschaften mit massiven Geldmitteln aus sehr diffusen Quellen aufgekauft und  bisweilen zu Spottpreisen übernommen. Wen wunderte es da doch, dass man auch in Castellinaria so großzügige Angebote machte. Vergleichsweise "Peanuts"...

   Aber dann waren die Billionen von im Nebel der Immobilien-Spekulation in den Sand gesetzten Dollar der weltweiten Finazkrisen doch zu etwas gut: Sie entzogen den neuen, luftschlössrigen Plänen der Spekulanten in Castellinaria jegliches Fundament und waren über Nacht nur noch Wolkenschiebereien.  Andere großmannssüchtige Vorhaben in den Emiraten waren ja schon im Bau und verlangten vorrangig nach Schadensbegrenzung. Der Smarty aus der Schweiz verschwand heimlich mit eingezogenem Schwanz und letztlich leerem Klemmbrett. Wer wann wie viel Geld verloren hatte, wurde peinlich berührt verschwiegen.

   Fünf Jahre sind inzwischen vergangen, und Castellinaria hat wieder seinen alten gegenläufigen Rhythmus aufgenommen. Die Ruinen-Baumeister hat das Zeitliche gesegnet. Im wahrsten Sinne! Denn unterm Strich konnten sich deren Lebensbilanzen - auf welchen Zickzack-Wegen auch immer erreicht - durchaus sehen lassen. Selbst wenn jenen der Ruhm im größeren Rahmen versagt blieb, so hatten sie etwas geschaffen, was den wenigsten beschieden war: Sie hatten ein historisches Ensemble für weitere Generationen fit gemacht. Ja, man war fast geneigt zu sagen "so wie die Natur das Menschlein überlebt, so wird Castellinaria gegen die Veränderungen unten am Meer weiter bestehen.  Auch wenn sich die Dinge - wie stets im Laufe der Geschichte  -vermutlich wiederholen werden... 
  Die dauerhafte in ihren Folgen nicht absehbare Euro-Krise förderte aktuell die Flucht der Italiener ins Beton-Geld. Sie holten sich Castellinaria Haus um Haus von den "Parttime-Lovers" jenseits der Alpen  zurück, um in unsicheren Zeiten ihren Ruhestand hier zu leben. Innen- und außenarchitektonische Schmuckstücke gingen - wie einst weit unter Wert  - an neue Eigentümer. Und das ist keine zynische Gerechtigkeit, sondern einfach wieder einmal der Lauf der Zeit.
   Das Bewahren von Einzigartigkeit ist hoffentlich nun auch bei jenen angekommen, die la nostalgia bisher kaum in ihre Seelen lassen wolltenCastellinaria wird auch in Zukunft weiter so leben – wie es sich seine Bewohner  individuell erträumen. Und wer weiß? In ein paar hundert Jahren ist dieser Zauberberg vielleicht das einzige, was vom großen paneuropäischen Traum übrig geblieben ist.
    

                                                  E N D E

Montag, 9. Juli 2012

Die Rückkehr der Enkel

Castellinaria Kapitel 15



  „Ich komme einfach nicht an!“, sagte Johannes Goerz und schaute über den erleuchteten Kirchturm der Nachbargemeinde auf das vom Mond beschienene Meer hinunter. Offenbar recht große Wellen, die der Scirocco vor sich her schob, ließen es mit ihren streifigen Schatten von dort oben, wo sie saßen, wie ein Teller aus gehämmertem Silber erscheinen.
  „Ich komme einfach nicht an - in diesem so genannten Dritten Leben. Ich erkenne, das Privileg hier sein zu dürfen. Ich sauge diese einzigartige Schönheit in mir auf, aber anstatt es zu genießen, lasse ich zu, dass gerade in solchen Momenten ein aberwitzig schlechtes Gewissen von mir Besitz ergreift.“
  Bernhard Kleiners lange Beine baumelten wie die von Goerz in lässiger Fahrlässigkeit außen von der Zinne des Kastells über dem schwarzen Abgrund, der sich an der Südostfront der Burgmauer erstreckte. Glühwürmchen tanzten in der Tiefe. Er schmauchte seine Pfeife mit zerkautem Mundstück und sagte gar nichts. Längst wusste er, dass sein neuer Bekannter ein komplizierter und zerrissener Charakter war, dem mit seinem gesunden Menschenverstand kaum beizukommen war. Indem er ihn aber schweigend und fest anschaute, wenn der eine Pause machen wollte, ermutigte er den Jüngeren stets mit seinen Monologen fortzufahren. Das klappte und war besser, als sich mit Traute via Satellit deutsche Fernseh-Soaps anzusehen. Diese fortwährende Selbstzerfleischung war eine Reality-Show – exklusiv und wegen beiläufig gewonnener Erkenntnisse unbezahlbar.  Er selbst war ja auch auf Wichtigkeitsentzug gewesen, nachdem er die Großbaustellen seines Lebens auf immer verlassen hatte. Er wusste, dass Verluste von Macht, Kraft, Sex und anderer Antriebskräfte auch bei dem Journalisten seine Zeit brauchen würde, aber er war sich nicht ganz sicher, ob Goerz - so wie er - den Stand der Weisheit durch homöopathischen Genuss des noch Gewährten erreichen würde.
  „Der Gogel hat mir außer der Bruchbude noch einen Spruch da gelassen. Quasi ein Leitsatz aus seinen Management-Seminaren: Man merke sich: Die beiden größten Arschlöcher in meiner Karriere sind mein Vorgänger und mein Nachfolger…“
  „Ich habe übrigens meine Wohnung an den Enkel von Franco verkauft“, warf Kleiner mitten in den unvollendeten Satz.
  „Was hat das jetzt mit dem Spruch vom Gogel zu tun?“ hakte Goerz in einer Mischung aus Erstaunen und Ungehaltenheit nach. Kleiner hatte ihn noch nie unterbrochen, und schon gar nicht, indem er ein völlig anderes Thema anschnitt.
  „Nehmen Sie doch Castellinaria! Das ist eine über Jahrhunderte andauernde Abfolge von Vorgängern und Nachfolgern. Aber die gegenwärtigen Arschlöcher sind wir, die wir gedacht haben, wir könnten einfach ein fremdes Stück Paradies kaufen und nach unseren Vorstellungen formen und verändern. Wie sehr wir in die historische Nachfolge eingegriffen haben, ist mir gerade erst durch diesen Spruch und das, was ich mit Francos Enkel erlebt habe, bewusst geworden.“
  „Sie sprechen in Rätseln. Don Bernardo!“
  „Nun, die Wohnung, die ich seinem Enkel verkauft habe, hat einmal Franco gehört. Er hat mir und Häubel das Haus zu Beginn der Achtziger verkauft, weil seine Kinder nach Turin und Genua gegangen waren und von Castellinaria nichts mehr wissen wollten. Unser Geld hat er – genügsam wie er immer war – für seine ungeborenen Enkel bei der Ambrosiana angelegt. Stellen Sie sich das mal vor. Damals haben sie die Italiener auf den Baustellen bei uns wegen ihres ungebremsten Kinderzeugens noch ‚Katzelmacher’ genannt…“
  „Ja, so hieß doch auch ein Film von Rainer Werner Fassbinder…“
  „…Und jetzt sind die bei den Geburtenraten in Europa das Schlusslicht.
Francos Töchter sind geschieden und haben gar keine Kinder. Einer der beiden Söhne seines Sohnes ist jetzt bei Imperia Mare für die künftige Hafen-Entwicklung zuständig. In den 26 Jahren seines Lebens war er vielleicht dreimal hier oben, ansonsten durfte Franco, um seine Enkel zu sehen, nach Genua reisen. Marco, der ältere der beiden Enkel, erinnerte sich also, dass sein Vater häufig von einem zweiten Häuschen seines Großvaters gesprochen hatte und fragte nach Jahrzehnten des Desinteresses Opa Franco, ob er dieses Häuschen als Wohnung haben könnte, weil die Mieten am Hafen so absurd teuer seien. Franco erzählte ihm, dass das Haus schon vor seiner Geburt verkauft worden sei. Dass er ihm aber die Hälfte des damals angelegten Erlöses zugedacht habe.“
  „Und da hat der sich riesig gefreut und Ihnen davon gleich die Wohnung abgekauft?“
  „Nein! Ganz im Gegenteil! Der hat seinen Opa wüst beschimpft. Er habe ein Fundament der italienischen Kultur für centesimi an Ausländer verhökert. Und seine Wut wurde fast zu einem Tobsuchtsanfall, als er feststellte, dass das Geld vom Opa mit Zins und Zinseszins gerade dazu ausreichen sollte, davon die Hälfte von der Hälfte des früheren Hauses zu bezahlen. Er nannte mich einen Spekulanten, obwohl ich ihm sogar  die Wohnung aufgrund meiner Freundschaft zu seinem Großvater noch um 25 Prozent günstiger angeboten habe.  Häubel und ich hatten ja in die Renovierung neben dem Material und der Ausstattung einen Haufen eigene aber auch viele Arbeitstunden der Albanesi gesteckt. Jeder von uns hatte Franco damals 15 000 Mark bezahlt und etwa die gleiche Summe in die durch die Teilung entstandenen Wohnungen investiert. Lustiger Weise hatten auch wir beide die Idee, diese dereinst mal unseren Enkeln zu überlassen…“

  „Und?“
 „Häubel hat ja welche. Unser Sebastian hat das Thema Kinder längst abgehakt. Und was Sie erzählt haben, wird es doch auch bei Ihnen keine geben. Die wenigsten der Deutschen hier oben – so sie überhaupt Kinder hatten – haben Enkel, und da sich deren Eltern schon kaum mehr interessierten, wird es von denen hier keine wirkliche Nachfolge-Generation geben.“
  „Luftschlösser taugen offensichtlich nicht für Dynastien“, Goerz schüttelte in jäher Erkenntnis und ein wenig resigniert seinen Kopf und fuhr dann fort: „aber waren wir denn blind in unserer Sehnsucht nach so einem Ort? Wenn es so sein wird, dass unsere Kinder und Enkel im Globalismus nicht mehr sesshaft werden können, weil sie für den Job vielleicht alle fünf Jahre wieder an einen anderen Ort müssen, dann wäre doch so eine Zufluchstätte eine tolle Alternative.“
  „Ja, schon. Aber sie wäre eben keine Heimat oder nur ein Ersatz für sie. So etwas wie ein Elternhaus hat keine Bedeutung mehr, so bald es in dessen Umfeld nicht mehr genügend Jobs gibt. Im Prinzip ist das so, wie es hier oben war. Francos Generation hatte schon keine Perspektive mehr als Bergbauern. Also haben die meisten damals Castellinaria verlassen, um ihr Glück anderswo zu suchen. Wenn meine Generation Deutscher nicht die Sehnsucht nach den italienischen Momenten gehabt hätte, wäre das hier oben alles verfallen. Klar haben wir die alten Gemäuer für vergleichsweise lächerliche Summen gekauft. Aber niemand zählt ja die Arbeitsstunden und die Kosten für das Material zusammen, die wir all die Jahre in die Restaurierung gesteckt haben, ohne dafür Subventionen für den Denkmalschutz einzustreichen…“
  „Nein, die Enkel sehen natürlich nur die Preise, die sie sich meist mit normalen Jobs nicht leisten können – selbst wenn sie Opas wie Franco haben.“
  „Fünf der Häuser, die verkauft wurden, seit Sie das Haus der Francesa übernommen haben, sind nicht mehr an Nordeuropäer gegangen, sondern als Investments für Ferienwohnungen an Immobilien-Firmen aus Turin und Mailand.“
  „Februar und März war der Ort tatsächlich so ausgestorben, dass ich mir hier wie in einer Geisterkulisse vorgekommen bin, aber das war auch irgendwie mystisch und schön.“
  „Es werden also andere Nachfolger kommen, aber bis dahin sind wir die Arschlöcher. Ich sage es ungern – obwohl wir ja auch zum Wohlstand der Gemeinde beitragen – baut sich hier erstmals in all den Jahren eine unterschwellige Feindseligkeit auf. Die Enkel-Generation weint einem verlorenen Paradies nach, dass ihre Eltern verlassen haben und in dem ihre Großeltern erst einen verbesserten Status erfuhren, als wir dessen Verfall gestoppt haben.“
  „Dürfen wir ihnen das denn verübeln?“
  „Nein, natürlich nicht! Man muss sich ja nur vorstellen, das wäre mit einem unserer historischen Dörfer daheim passiert – beispielsweise durch Japaner. Oder einfacher: Wir erinnern uns daran, was die vermögenden Wessies nach der Wiedervereinigung an Luxussanierungen und Spekulationen allein in Dresden, Leipzig und Weimar mit Unterstützung der Treuhand durchgezogen haben.“
  Goerz bewegte eine Weile schweigend seinen mächtigen Schädel mit der Einsteinmähne hin und her. Dann grinste er schüchtern wie ein Schuljunge, der seinen Lehrer in einer Mischung aus Respekt und Erkenntnis um einen Gefallen bitten will:
  „Ich weiß, wir haben in Deutschland die Sitte, dass die Aufforderung zum vertraulicheren Du vom Älteren auszugehen hat. Wir beide - glaube ich - lassen uns mit dem Duzen wohl auch aus einem gewissen Misstrauen heraus immer noch mehr Zeit als andere. Aber ich möchte hier und jetzt etwas zum Ausdruck bringen, was mir schon seit einiger Zeit klar ist. -  Bernhard Kleiner, Sie haben einen außergewöhnlichen Charakter und Sie sind ein inspirierender Quell der Weisheit. Es wäre mir eine Ehre, wenn Sie mir das Du anböten.“

Sonntag, 8. Juli 2012

Euros Gnaden

Castellinaria Kapitel 14



  Und dann galt ab 1. Januar 2002 der Euro und sorgte für einen Wertewandel sowie höchst unterschiedliche Wahrnehmungen bezüglich seiner wirtschaftlichen Wirkung. Das traf sicher überall in Europa zu, war aber auf dem Zauberberg von Castellinaria mit seinem verlangsamten Raum-Zeit-Kontinuum und den höchst persönlichen Perspektiven seiner Bewohner geradezu exemplarisch. Durch den Nationen-Mix war hier quasi ein Musterzoo oder besser ein Reservat für unterschiedlichste Wirtschaftswesen europäischer Herkunft entstanden. Je nachdem in welchen Biotopen sie aufgewachsen waren, gediehen sie jubelnd oder verkümmerten seelisch; jedwedes aber eigentlich ohne ersichtlichen Grund:
  Bernhard Kleiner war bedingt durch seinen Lebenslauf Vertreter einer raren, gegen diese Anwandlungen immunen Spezies. Das galt auch für die steinalten, immer schon hier angesiedelten „Gewächse“, die sich landwirtschaftlich selbst versorgten. Sie suchten höchsten bei schwersten Krankheitsfällen niedere Gefilde auf oder wurden meist erst nach weit über 80 Jahren harten Lebens im Sarg auf den Friedhof ins Tal gebracht.
  Die Gogels hatten zwar noch das Haus mit Garten gekauft, es aber sofort, nachdem sie es wieder in bewährter Manier dekoriert hatten, an eine Agentur zur Vermietung weiter gegeben. Im Übrigen aber waren sie gleich über die nur noch in den Köpfen vorhandene Grenze nach Frankreich entwischt und hatten von den Gewinnen in Castellinaria eine Villa auf dem Cap d’Ail  zwischen Monaco und Nizza erstanden. Bevor der Rest der Welt begriff, dass der Euro bald nicht mehr heimlich in Gedanken umgerechnet zu werden brauchte, kauften sie diese von verängstigten Amerikanern in Dollar auf der Basis von Franc-Umrechnung. 2007 sollten sie (wieder einmal fristgerecht und hübsch dekoriert) die Villa in Euro zur gleichen Summe verkaufen und das taten sie dann auch gleichermaßen bei dem Haus in Castellinaria.
  Natürlich bekam Johannes Goerz seine vermeintlichen Nachbarn niemals mehr zu Gesicht, um ihnen zumindest einmal die Meinung zu sagen. Der ehemalige Journalist gehörte also schon wegen seines baufälligen Domizils und der Tatsache, dass er nun weitgehend vom „Eingemachten“ leben musste, ganz sicher zu denen, die Gefahr laufen würden, zu verkümmern. Er entwickelte jedoch für das Phänomen des Euro-Wertwandels ein Ursachenschema, mit dem sich außer ihm auch andere Europa-Depressive gedanklich aus dem schwarzen Loch hätten hieven können: Das Pizza-Theorem.
  Das Pizza-Theorem zeigte einerseits die Machtlosigkeit des Individuums, machte ihm andererseits aber auch deutlich, dass es zumindest nicht allein von den Wirtschaftsmächten verarscht wurde – dass das Volk als Volkswirtschaft demnach immer  noch die Chance gehabt hätte, zurück zu schlagen:
  Der Euro war im März/April 2002 für die Italiener immer noch so ungewohnt, dass die Kaufhäuser und Laden-Ketten die Waren (zum Teil bis heute) auch noch mit Lire auszeichneten. Restaurants gestalteten ihre Menükarten nach diesem Vorbild, um zu suggerieren: Schaut her, nichts hat sich durch die neue Währung geändert. Aber der Euro war für den kleinen Mann eben ein schleichendes Gift. Drehbuchschreiber von Verschwörungsthrillern könnten rückblickend vielleicht einen Zusammenhang zwischen der Euro-Einführung, „Nine Eleven“,  Börsen-Crash, „America at War“ und dem damit verbundenen Angriff auf den Irak konstruieren. Tatsache war, dass das beidermaßen in Friedenskundgebungen und Kriegshandlungen engagierte Berlusconi-Italien mehr damit zu tun hatte, die regenbogenfarbenen „Peace“-Flaggen auf die Balkons zu hängen, als Preise zu kontrollieren.
  Der kleine Riss im Damm  gegen den „Teuro“ wurde durch eine Pizza-Kette verursacht. Die Schallgrenzen für Pizze lagen 2001 zwischen 6000 und 9000 Lire (etwa sechs bis neun Mark). Heimlich hatte sich im April der Euro-Preis für die „Margherita“, die nur mit Mozzarella, Tomaten und Basilikum belegte in der Regel billigste Version, mit 3,90 Euro von der alten Einstiegsmarke entfernt. Als sie erstmals die Vier-Euro-Grenze überschritt, schlugen die Italienischen Verbraucherschützer angesichts der Preissteigerung um 25 Prozent innerhalb dreier Monate erstmals Alarm und riefen zum landesweiten Boykott von Pizzerien,  Pizza-Bäckereien und -Lieferanten auf.
  Das funktionierte. Ein Wochenende lang aß Italien nur selbst gemachte oder tiefgekühlte Teigfladen. Es rutschte jedoch nur die Margherita unter die frühere Marke zurück. Die nicht so leicht typologisch zuzuordnenden übrigen Pizza-Kreationen mogelten sich weiter auf die Neun Euro zu oder schlichen sich im Jahr darauf gar schon darüber. Im Frühjahr 2008 kostete die Durchschnittspizza bei gleichem Lohn-Niveau und  EU-weit geringeren landwirtschaftlichen Erzeuger-Preisen mit Neun Euro nach nur fünf Jahren um jedenfalls 100 Prozent mehr.
  Das Theorem hätte übrigens ohne weiteres auch auf Deutschland als Schweinsbraten- oder in Österreich als Kaffeehaus-Theorem angewendet werden können… Der 1000Lire-Steh-Espresso war auf wundersame zwei Euro geklettert, aber da hatte dieses Genussraucher-Volk auch schon ohne jeglichen Widerstand und vor allen anderen EU-Mitgliedsstaaten die härtesten Restriktionen gegen Tabakqualm akzeptiert…
 
  Bernhard Kleiner wusste zunächst mit Johannes Goez, dem neuen, streitbaren Bewohner Castellinarias nichts anzufangen. Ihm fiel auf, dass dieser sich jedoch sehr schnell in seinem Umfeld zurechtfand, weil er ungeachtet seiner geringen Sprachkenntnisse auf die Einheimischen zuging und ihnen sichtlich bemüht zuhörte - wie ein Therapeut oder Seelsorger. Goerz signalisierte ihnen – anders als der beflissene Peter Häubel -  dass er mit ihnen leben, aber nicht um jeden Peis dazu gehören wollte. Man zollte ihm wohl  gerade deshalb schnell Respekt.
  Dieser wuchs auch, weil der Autor für Dienstleistungen und Reparaturen sein Geld strikt im inneren Zirkel der Gemeinde ausgab, selbst wenn er sich dafür manche Unzuverlässigkeit (zunächst durchaus bewusst) einhandelte. Aber irgendwann erträgt auch der dickste Nacken keine weiteren Schläge mehr.
   Der von ihm engagierte Baumeister war mitten im totalen Sanierungs- und Umbau-Chaos in Folge eines Herzinfarktes von der Leiter gepurzelt. Dadurch geriet dessen „banca di favore“, die Gefälligkeitsbank, in Schieflage. Mit den Lebensgeistern des „impresarios“ waren nämlich auch 15 000 per Handschlag a conto übergebene Euro entfleucht. Und unmittelbar darauf stellte sich heraus, dass die Baugenehmigung für eine Säulenreihe, die eine marode Mauer an der Dachterrasse nach Maßgabe des Verstorbenen ersetzen sollte, beim „Sindaco“ nicht eingeholt worden war.  Das bedingte eine Anzeige wegen Verstoßes gegen den mittlerweile sehr strengen Denkmalschutz.  Eine neue, kostenpflichtige Vermessung für das Katasteramt zuzüglich eines stattlichen Bußgeldes wurde fällig.
  Bernhard Kleiner war ein harter Mann, und nichts von dem, was seinem Landsmann widerfuhr, hätte ihn jemals emotional tangiert. Doch als er den Fleischberg eines Morgens heulend und zusammen gesunken durch die offene Haustür an seinem Küchentisch sitzen sah, trat er ungefragt und auch besorgt von der Piazza in dessen Haus.
  Goerz wischte sich verschämt die geröteten Augen und versuchte sich an einem Grinsen:
  „Ich gebe auf. Dieses Haus schafft mich. Das ist eine Sparbüchse ohne Boden. Und jetzt das!“
  Er wies auf die vor kurzem frisch gestrichene Küchendecke. Dort breitete sich zügig ein pechrabenschwarzer Fleck aus. Irgendwie war das ablaufende Wasser aus der Wanne des darüber liegenden Bades seit Jahren unbemerkt in einen stillgelegten, zu zementierten und total verrußten Kaminabzug geraten. Jahrhunderte Olivenholz-Befeuerung mussten sich in ihm abgelagert haben. Jetzt hatte sich das seit wohl geraumer Zeit zusickernde, sehr kalkhaltige Wasser einen Weg durch die Hohlräume der Mauern gebrochen und diese Melange war zusätzlich rabenschwarz oxidiert.
 
  Dies also war der Moment, in dem der legendäre „Ruinen-Bernd“ seine Wiedergeburt feierte, und es war auch der Beginn einer eigentümlichen Männerfreundschaft. Zwei vom Leben unterschiedlich geschundene Alpha-Wesen gingen zunächst eine Symbiose ein, die sicherlich keiner von beiden noch ein paar Jahre zuvor für möglich gehalten hätte. Der eher Manuelle und der ans Dominieren gewöhnte Delegierer – konnte das gut gehen?
  Instinktiv spürte Goerz die einfach strukturierte Kompetenz und den unerschütterlichen Mut zum Anpacken bei dem zehn Jahre Älteren und lieferte sich erstmals in seinem Erwachsenen-Leben einem anderen Menschen vorbehaltlos aus.
  Dank Euros Gnaden sollte dies eine der besten Entscheidungen seines Lebens werden. Mit „castorpschem“ (nach dem Zauberberg-Held entlehnte Charaktereigenschaft) , naivem Staunen nahm er in den kommenden Monaten die Urkraft wahr, die von diesem Zauberberg ausgehen konnte, wenn man sich nur bewusst auf ihn einließ. Es schien auch, als wolle jener seine Bewohner erst prüfen, ehe er sie dauerhaft als Residenten duldete.
  Schutthalden, Trümmer im Haus, Deckenkonstruktionen, die nicht hielten, was sie versprachen – das alles hätte den alten Johannes an den Rande eines Nervenzusammenbruches geführt. Jetzt war es ihm wurscht, wenn er sich einen Abend mal staubverkrustet und stinkend zum Schlafen niederlegte, weil das Wasser abgestellt bleiben musste. Jetzt war ihm auch egal, dass sein ramponiertes Vermögen stetig schrumpfte wie die von Signora Edda auf blitzenden Blechen zum Ausdörren auf dem Dach gegenüber ausgelegten Tomaten.  Jeden Morgen trat er  mit breiter Brust auf die Piazza oder seine über allem schwebende Terrasse, umarmte das einzigartige Panorama und sog die vom Meer aromatisierte, frische Bergluft wie befreit in seine Lungen. Sein Leben hatte als Ruinen-Bauherr einen neuen Orientierungspunkt, und diese Zielsetzung riss sein Umfeld mit.
  Milan Besnik war der erste, der Johannes Goerz in einer Mischung aus Respekt und Baustellen-Kumpanei mit seinem zukünftigen Spitznamen „Don Giovanni“ ansprach. Kleiner hatte die beiden Albaner in kleiner Nachbarschaftshilfe engagiert, weil diese neben ihrer erwiesenen und erprobten Zuverlässigkeit als einzige nicht mit dem Euro ihre Preise eins zu eins angehoben hatten. Er ahnte ja nicht, was Johannes Goerz bald erfahren sollte, aber  seiner  Verschwiegenheitspflicht gehorchend,  noch Jahre für sich behalten musste:
   Die „Sterbenachhilfe“ in Euroland war bei zunehmender Zwielichtigkeit derart gefragt, dass die zwei das Schuften am Bau, schlicht als  einen, die Nerven beruhigenden  Ausgleichssport betrachteten. Den meist ausländischen Bauherren fielen dabei die immer häufigeren partiellen Abwesenheiten des einen oder anderen Besnik nicht wirklich auf. Dass auf einmal Sali Besnik häufig allein auf seiner Baustelle schuftete, führte beispielsweise Johannes Goerz darauf zurück, dass nur der titanische Rotschopf so mühelos dazu in der Lage war, die Tonnen von Schutt durch das winkelige Anwesen nach draußen zu schaffen.
   Als auch „Il Mulo“ ihn zum ersten Mal mit „Don Giovanni“ ansprach, fühlte sich der Schreiberling gruselig amüsiert an die Szene in „Der Pate I“ erinnert. Die, in der der Killer Clemenza Don Corleone seine Aufwartung macht und in gutturalem Dialog seine tödlichen Anweisungen empfängt. Wie sollte „Don Giovanni“ da schon ahnen, wie treffend diese Assoziation noch werden würde?
  Und dann hatte Goerz beim gemeinsamen Schleppen einer schweren Säule in Folge von Pressatmung eben diesen bereits beschriebenen, kurzen Herzstillstand, der den Exil-Albaner aus seiner zementierten Rolle zwang. 
  Ausgerechnet beim Lebensretten hatte Sali Besnik seine Tarnung aufgegeben. Das Schicksal schreibt wirklich die besten Sketche!  
  Johannes Goerz hielt die gesamten Hintergründe für einen geplanten Roman lange unter Verschluss. Was womöglich auch damit zusammen hing, dass Sali einige Wochen, nachdem die Renovierung von Goerzens Haus endlich abgeschlossen war, auf die beschriebenen Weise zu Tode kam. Kurze Zeit darauf war dann übrigens auch Milan samt dem kleinen Bauhof bei Garlenda verschwunden.
  Bernhard Kleiner waren die stimmungsmäßigen Veränderungen seines neuen Bekannten nach dem euphorischen Zwischenhoch durchaus nicht verborgen geblieben, aber so sicher war er sich, dass Goerz ihm eines Tages erklären würde, was geschehen war, dass er nicht neugierig war. Noch waren sie beim Umgang miteinander zur Sicherheit distanziert beim Sie geblieben.
 Kleiner hatte Goerz genauestens studiert, ehe er langsam begann, ihm zu vertrauen. Ihm war aufgefallen, dass dessen augenscheinliche Interesselosigkeit im näheren Umfeld in erster Linie den deutschen Landsleuten auf dem Zauberberg galt. Bei den Italienern war das anders. Lucca, Enzo und die anderen mit Bernhard in die Jahre gekommenen Spießgesellen der ersten Zeit in Castellinaria hatten „Il Rullo“, die Dampfwalze, sofort in ihr Herz geschlossen. Sie nannten Goerz wegen seiner bisweilen plattmachenden Herzlichkeit ihnen gegenüber und natürlich auch wegen seiner Figur so. Bernhard beschrieb Traute die Art, wie Goerz, sich so schnell auf neue Bekannte oder alte Antipathien einstellte, als sie einmal an der Kasse im Supermarkt standen:
  Die Kassiererin zog Produkt um Produkt stoisch über das Scannerfenster. Erst wenn eines keinen Signalton von sich gab, widmete sie ihre Aufmerksamkeit ganz individuell dieser Ware. Dann tippte sie die Zahlen des Strichcodes ein und schickte sie auf dem Laufband hinterher. Manche Produkte - meist selten ausgewählte aber auch besonders neue wurden dann per Aufruf durchs Mikrofon ausgezeichnet an die Kasse nachgeliefert. Die nicht derart standardisierten Stücke gingen in einen besonderen Korb. Bernhard wies auf das Scan-Fenster:
  „Ich glaube der Goerz macht das mit Menschen genauso. Er scant sie und bevorzugt die, die nicht gleich per Strichcode ihren Euro-Preis zu erkennen geben. Wir sind wohl bei ihm in diesem Sonderkorb gelandet. Anders wäre das bei unserer Unterschiedlichkeit ja kaum zu erklären.“


Samstag, 7. Juli 2012

Il Mulo

Castellinaria Kapitel 13



   Spitznamen können schrecklich sein. Manchmal sind sie auch noch schrecklich zutreffend. Um den Mann, den sie Mulo, Muli oder das Maultier nannten, rankten sich viele Legenden. Die ehrabschneiderischste  war die, die sich an der Zoologie anlehnte: Mulos Vater sei eben der "geile kleine Esel" gewesen, der die schönste und größte Pferde-Stute im Dorf geschwängert habe. Die ehrfürchtigste wurde über seinen Weg in den Westen verbreitet:
   Als die Guardia Costiera den mit albanischen Flüchtlingen überladenen Fischerkahn in einer stürmischen Winternacht vor Brindisi aufgebracht hatte, habe sich das Maultier in einem unbeobachteten Moment mit einem hufeisenförmigen Rettungsring über Bord gestohlen. Der Ring sei noch nicht einmal groß genug gewesen, um über Mulos Nacken zu passen, damit sein Kopf nicht unter Wasser geriet. Er habe nur seinen Hinterkopf drauflegen können, hätte seine überlangen Arme zur Toter-Mann-Lage ausgebreitet und sei auf diese Weise die ganze Nacht im kalten Wasser herumgetrieben, bis ihn eine gnädige Welle an Land gespült habe. Das sei bei Bari gewesen. Neun Monate hätte er sich tagelöhnernd von Ort zu Ort immer dort verdingt, wo seine gewaltigen Körperkräfte von Nöten gewesen seien. Eines Tages sei er dann gar nicht überraschend bei einem legal als Maurer an der Ponente lebenden Vetter aufgetaucht, hätte ihm das unterwegs verdiente Geld wortlos in die Hand gedrückt, und es sei genug gewesen, um die kleine Baufirma bei Albenga zu gründen, die sie nun seit einigen Jahren gemeinsam betrieben.
  Die furchterregendste Version der Maultier-Legende war jedoch die: Mulo sei ein kosovarischer Killer, und seine Existenz als Bauarbeiter nur eine Tarnung für seinen Blutjob. Den Spitznamen Mulo hätte er von seinen Auftraggebern bekommen. Wegen der sturen, unbeirrbaren und ausdauernden Weise, mit der er seine Hits zu arrangieren pflegte.
  Zwar gab Mulo den Gerüchten keine weitere Nahrung, aber Legenden haben eben ihr Eigenleben, und das wurde durch den Umstand noch angeregt, dass sich der Albaner auf den Baustellen mit selten mehr als einem Dutzend Worten pro Tag aus einem ligurisch-albanischen Vokabular artikulierte.
  Als der Autor Johannes Goerz den legendären Mann zum ersten Mal sah, stand dieser gerade ungesichert in 13 Meter Höhe auf der Terrassenmauer in einem Teil des mittelalterlichen Hauses, das sich der Deutsche zu seiner Ruhestandsresidenz umbauen ließ. Das Maultier wuchtete Hand über Hand eine Palette Bodenfliesen aus der Gasse hoch, obwohl es in Armlänge von ihm einen Flaschenzug gab, der ihm die Arbeit hätte erleichtern sollen. Als Goerz zu ihm auf die Terrasse kam, sah er das Malheur. Das angeblich strecksichere Bau-Seil, das er in den Zug eingelegt hatte, hing überstreckt zwischen den Blöcken und ringelte sich wie Schillerlocken die Wand hoch. Der Schrat musste es mit einer Tonne oder mehr belastet haben... In dem Moment, in dem er die Palette über die Mauerkrone schwang, als handele sich um ein Geschenkpaket, blinzelte Mulo Johannes aus einem Auge seines schräg gestellten Kopfes zu und gab einen grinsenden Grunzlaut von sich. Die Ideal-Besetzung für einen Quasimodo, schoss es Johannes Goerz durch den Kopf, aber er sollte sich gründlich irren.
  Wenige Wochen vor dieser denkwürdigen Begegnung war der Autor, der bis dahin selbst gern die Muskeln hatte spielen lassen, von irreparablen  Herzrhythmusstörungen heimgesucht worden und knapp an seinem ersten Schlaganfall vorbei geschrammt. Unter starken Medikamenten versuchte er, sich in die Nähe seiner alten Form zu bringen, aber für die richtig harten Sachen brachte sich eben von nun an ohne viel Worte das Maultier ein. Mitunter kam er allein von einer anderen Baustelle, um zu helfen oder etwas fertig zu machen, und dann ergab es  sich, dass die beiden so unterschiedlichen Männer bei einem Bier in der Abendsonne saßen oder schweigend gemeinsam eine Pasta-Mahlzeit spachtelten, die Johannes ihnen zubereitet hatte. Da der Blick des Urwesens immer freundlicher und offener wurde, fasste Johannes eines Abends den Mut, eine Art Konversation zu beginnen: In seinem einfachen Italienisch machte er seinem Gegenüber klar, dass für Deutsche der Spitzname Maultier oder Muli eher eine Beleidigung darstelle. Er wollte ihn bei seinem richtigen Namen nennen. Nein, Johannes hatte nie den Eindruck, es mit einem Debilen zu tun zu haben, aber er war doch einigermaßen überrascht, als sich in das Gesicht seines Gegenübers beim Zuhören ein aufgewecktes Lächeln schlich. Er heiße Sali Besnik, und es sei ihm eine Ehre, meinte der Mann, den sie Mulo nannten. Das war der erste ganze Satz ihrer Kameradschaft, die sich dennoch zunächst einmal nur stillschweigend weiter entwickelte.
  Eines Tages musste der körperliche Arbeit nicht sonderlich Gewohnte bei einer Säule mit anpacken, die über eine enge Treppe hinauf sollte. Und obwohl Sali als Untermann den Löwenanteil des Gewichtes auf sich nahm, geriet Johannes durch das Tragen vor der Brust und die erzwungene Pressatmung offenbar in eine Art Sauerstoff-Defizit. Genau das, wovor ihn die Ärzte nachdrücklich gewarnt hatten. Es gelang ihm gerade noch, die Säule abzusetzen, ehe er in eine kurze Ohnmacht fiel. Als er aufwachte, spürte er den Kopf des Albaners auf seiner Brust. Er horchte in Ihn hinein und schaute dann mit einem eindeutig geschulten Blick in die benommenen Augen von Johannes.
  "Du bist ein Arzt! Sali?"
  "Das Problem sind nicht die Arhythmien, mit denen könntest du hundert Jahre werden. Das Problem ist dein hektisches Atmen. Das bringt dir den Sekunden-Tod, wenn du dir nicht eine Atemkontrolle  antrainierst."
  Goerz war zwar noch  konfus, aber nicht so sehr, dass er nicht gemerkt hätte, dass der Mann - mit einem guturalen Akzent zwar - Deutsch gesprochen hatte.
 "Wer bist du?"
 "Ich war mal Dr. Sali Besnik. Jetzt bin ich il Mulo. Ich weiß, du bist ein Geschichten-Erzähler, aber die Geschichte, die ich dir erzählen könnte, würde keiner glauben. Also lassen wir es besser."
  Für eine Weile sahen sich die beiden nach diesem Outing nicht mehr.  Aber auch der ehemalige Reporter  erzählte aus einer Eingebung heraus - quasi im Hinblick auf einen nicht vereinbarten Quellenschutz -  niemandem von dem Erlebten. Er hatte aber im Internet gestöbert. Mit diversen Suchbegriffen hatte er versucht, einen Zeit- und Ereignisraster zu konstruieren, denn schon bald war ihm klar geworden, dass es zwar diverse Sali Besniks gab, aber keinen, der annähernd deckungsgleich mit dem Signalement des Mulis war. Auch indem er die Legenden, die sich um Mulo rankten, in Suchbegriffe zerlegte, landete er keinen Treffer. Der Mann war zwar deutlich jünger als er selbst, aber er war alt genug, dass er noch unter der finstersten kommunistischen Regierung Europas studiert haben musste. Das Deutsch hatte er vermutlich bei Gastsemestern oder als Assistenzarzt in der ehemaligen DDR gelernt.
  Dann hatte auf einmal alle Spekulation ein Ende, weil Mulo eines Abends vor der Tür stand. Eine Flasche Grappa und eine Tüte frische Focaccia unterm Arm:
  "Irgendjemand muss ich es ja mal erzählen. Sie sind schon hinter mir her, um mich umzubringen. Meine Leute sind ja alle tot,  aber mein Vetter mit seiner Familie hängt noch mit drin. Aber du wirst wissen, wie du mit dem Wissen umgehst. - Du könntest meine Geschichte eines Tags vielleicht verwenden. Ich würde nicht umsonst gestorben sein und ein paar bekämen dann vielleicht  mal selber Angst. Ich war ein..."
  An jeder Legende haftet ein Teil der Wahrheit. Diese Erkenntnis gewann Johannes in jener Nacht. Der Vater vom Muli war zwar klein gewesen, aber längst kein Esel. Er war Bibliothekar und trotz aller Repressalien hatte er als orthodoxer Christ gelebt. Seine Furchtlosigkeit hatte ihn zum Ankerplatz einer intellektuellen Opposition gemacht,  und da viele Kinder aus Familien der Nomenklatura Tiranas sich darin gefallen hatten, Ilja Ehrenburgs "Tauwetter" oder Boris Pasternaks "Dr. Schiwago" zu diskutieren, waren diese Kreise relativ unbehelligt geblieben. Gefährlich war es erst geworden, als eine üppige hoch aufgeschossene, honigblonde Kosovarin regelmäßig zu den Treffen gekommen war. Wie viele körperlich kleine Männer war der Bibliothekar urinstinktiv den ausladend einladenden Reizen der Studentin erlegen und er träumte fortan geradezu besessen davon, sein Denkerhaupt auf immer zwischen diesen gewaltigen Brüsten zur Ruhe zu betten. Doch die Rubensschönheit, die ihn nicht nur um Haupteslänge überragt hatte, sondern auch Muslima war, wurde von eigenen Tugendwächtern, nämlich ihren vier äußerst aggressiven und gnadenlosen Brüdern observiert... Furchtlosigkeit - vor allem, wenn man körperlich nichts zuzusetzen hat - zehrt aus. Der Muli sollte nie erfahren, wie es sein Vater angestellt hatte, alle Hindernisse aus dem Weg zu schaffen, um seine Mutter nicht nur zu heiraten, sondern ihn auch noch zu zeugen. Denn der Beginn seiner Wahrnehmungsfähigkeit war mit dem Verfall jenes kleinen, Brille tragenden Männchens zusammen gefallen, den er wohl mit den ersten Worten Papa genannt hatte, der aber noch vor seinem dritten Geburtstag seinem Leberkrebs erlag.
  Es war nach dem Tod seines Vaters nicht zu der tragischen Kindheit gekommen, die gemeinhin zu erwarten gewesen wäre. Ljuba, seine Mutter, hatte seinen Vater so geliebt, dass sie nie wieder heiraten sollte. Aber sie hatte die Männer  gut genug studiert, um mit dem Fetisch ihres Körpers auf die meist kleinwüchsigen Machtneurotiker ihres Landes Einfluss zu nehmen. Als in Deutschland die Mauer fiel, war sie gerade die Lebensgefährtin des albanischen Botschafters in „Berlin, der Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik". Ihr Sohn stand in Jena kurz vor dem Facharzt für Kardiologie.
  Wie schnell das damals gegangen war: Die Genossen waren im wieder vereinten Deutschland über Nacht zu unbequemen Gästen geworden. Gerade noch politisch hofiert, war ihnen unmissverständlich nahe gelegt worden, in ihre trotz freier Wahlen noch zwei weitere Jahre im Kaderkommunismus verharrende Republik zurück zu kehren.
  Il Mulo hatte das getan, was er bei Veränderungen am liebsten tat. Er stellte sich stur und konzentrierte sich auf seine Berufung als Arzt. Ljuba war ebenfalls beim bewährten Rezept geblieben und leistete erneut vollen Körpereinsatz. Gleichzeitig mit der ersten demokratischen Regierung Albaniens hatte sie es wieder einmal an die Spitze geschafft. Man nannte sie nur noch die "Prinzessin der Pyramiden". Damit waren nicht die von Ägypten gemeint, sondern jene Kapitalanlage-Modelle, die den gerade mal aufkeimenden Wohlstand in der albanischen Bevölkerung durch unsaubere Machenschaften auf nimmer Wiedersehen abschöpften. Am zweiten Tag des so genannten "Lotterie-Aufstands" drangen aufgebrachte Menschen im Morgengrauen in die Strandvilla eines der verantwortlichen Bankiers und erschlugen ihn in seinem Bett. Ljuba, die neben ihm lag, wurde auf die Straße gezerrt und schließlich auf obszöne Weise vor den Augen aller geschändet. Sie erlag ihren inneren Verletzungen ausgerechnet in dem Krankenhaus, in dem ihr Sohn als Stationsarzt Bereitschaftsdienst hatte.
 
  Der nicht mehr einzudämmende Wortschwall, mit dem Il Mulo Johannes sein Leben geschildert hatte, endete mit Tränen, die dieses Urtier von einem Mann geradezu grotesk erscheinen ließen.
  "Ich habe so große Schuld auf mich geladen. Statt Leben zu retten und zu bewahren, habe ich Leben ausgelöscht. Ich dachte, die harte körperliche Arbeit könnte mich läutern. Mein Gewissen abstumpfen. Aber ich wollte so gerne wieder einmal Deutsch reden, und dann kam dein Schwächeanfall. Plötzlich war er wieder da, der Arzt - verstehst du? Und damit das Grauen.“ 
  Es vergingen nach dem ergänzenden Bekenntnis, erneut viele Tage, in denen Johannes wieder nichts vom Maultier hörte. Und dann kam es - von den meisten kaum beachtet - in den RAIregionale-Nachrichten.
  Ein Fischer hatte mit seinen Stellnetzen vor dem Capo Berta einen Mann aus dem Meer gezogen. Der Mann sah so entspannt und zufrieden aus, dass die Behörden an einen betrunkenen Bade-Unfall geglaubt hatten. Die Obduktion bestätigte zwar, dass der Mann ertrunken war, aber eben an flüssigem Marmorkleber. Es war der Mann, den sie  il Mulo genannt hatten...
  

Freitag, 6. Juli 2012

Das Spiel der Spekulanten

Castellinaria Kapitel 12



  War der Lenz durch sein Unwesen doch so etwas wie ein Katalysator für Castellinaria gewesen – oder eher eine Art Reaktionsbeschleuniger?
Indem er sich nicht ganz freiwillig von dem Burgberg zurückzog, öffnete er den Wegelagerern, die an den Geldflüssen des neuen Europas lauerten, jedenfalls ein weiteres Feld. Eine zweite, diesmal viel breitere Invasionswelle von Spekulanten rollte nun auf die höher gelegenen Bergdörfer Liguriens zu. Sie erfasste vor allen auch das durch die neue Schnellstraße im Tal dem Meer näher gerückte Castellinaria
  Das Jahrzehnt der Habgier hatte zur Jahrtausendwende und bis zum Anschlag auf die Twintowers des World Trade Centers einen sich selbst erhöhenden Menschenschlag von Gewinnlern, Spekulanten und Raffern in die schönsten Regionen des alten Europas geschwemmt. Sie nutzten vor allem die Gier der Neureichen, die ihr langes kommunistisches Darben hinter dem Eisernen Vorhang mit einer Art Hochgeschwindigkeitskapitalismus wett zu machen hofften. Über Nacht waren die in der Lage, jeden Preis für aufgestaute mediterrane Träume zu bezahlen.
  Das westliche Ligurien, das nach den beiden Weltkriegen irgendwie im Windschatten diverser Wirtschaftswunder weitgehend unbeschadet ausgeharrt hatte, geriet nun auf einmal auf die Landkarte spekulativer Begehrlichkeiten. Die Toskana war zu diesem Zeitpunkt schon weitgehend abgegrast. Die Cote D’Azur -  vor allem zwischen Nizza und Menton – durchbrach bereits die ökologisch vertretbare Bebauungsdichte, also schwappte das Geld nun ins Hinterland von Bordighera und Sanremo und begann den küstennahen Blumen- und Gemüsegürtel in Richtung Imperia zu verdrängen.
  Der große Rahmen der Veränderung war beispielhaft am alten Hafen  von Imperias Ortsteil Oneglia fest zu machen:
  Im Jahr 2000 vermittelte er noch den morbiden Charme des Industrie-Zeitalters. Wie Urzeittiere standen die auf Schienen beweglichen Riesenkräne an den Kais und die Gleise des Güterverkehrs führten noch direkt zu ihnen hin. Gebraucht aber wurden beide kaum noch. Große Frachter legten schon längst nicht mehr an. Den kleinen Kümos, die Oliven-Schrot zum Verschneiden des ligurischen Öls aus  Nordafrika herüber brachten, reichten die zwei restlichen Kräne…
  2007 lagen bereits die ersten Millionen-Jachten Bug voraus am Pier. Angedockt  an ultra modernen Versorgungseinheiten und mit unmittelbarem Blick auf die renovierte und in vielen neuen Farben erstrahlende historische Häuserfront, in der die einfacheren Appartements nun ab 300 000 Euro aufwärts kosteten. Eine wunderschöne „zona  divertimento“ war aus dem alten Hafen geworden und veränderte das vergnügliche Leben in dieser Stadt, die bis dahin eher das hässliche Entlein im Reigen der ligurischen Küstenorte war.
  Der kleinere Rahmen der Veränderung wurde 600 Meter höher rund ums Kastell von Castellinaria gezogen: Allerdings vollzog sich der Wandel der Zeit dort mit mehr Zeit beim Wandeln. Denn je länger es dauerte, desto mehr Gewinn versprach bei den rasant steigenden Preisen unten das umsichtige  Engagement oben. Auch die restlich verbliebenen Ruinen des Ortes erfuhren daher nun nach und nach ihre Wiederauferstehung als kapriziöse Wohnobjekte. Wobei gar nicht mehr zählte, ob die Gemäuer einst jemals als Wohnraum für Menschen gedacht gewesen waren. Ehemalige Tierställe, Speicherräume für die Olivennetze und die leeren Glasflakons avancierten über Nacht zu romantisch rustikalen Ferienwohnungen. Ja sogar der örtliche Ölmüller, der Frantoio, gab sein verwinkeltes, mittelalterliches Bogengewölbe auf, um einem aufstrebenden Künstler stilvoll und preislich absolut überzogen Wohnung und Atelier zu bieten.
  Gegen die neuen Bauherren hatte vergleichsweise sogar der Lenz noch einen gewissen Ethos bei der Renovierung gehabt. Die Devise der neuen Spekulaten war es, schnell zahlungsbereiten Sonnen-Sehnsüchtigen eine Art potemkinsches Dorf vorzugaukeln. Wie sehr sich die Geschichte im zaristisch russischen Sinne wiederholte, sollte das vorläufige Ende dieser Geschichte noch zeigen.
  Eines Tages war nach Jahren der Abwesenheit „la Dottoressa“, die Dröse also, wieder mit einem schicken Mann an der Hand zur Piazza hinauf gestöckelt. Sie hieß  jetzt allerdings nicht mehr Dröse, sondern Gogel. Aber der Spitzname „la dottoressa“ blieb ihr noch eine Zeit lang, obwohl sie nie eine Uni von innen und „akademische Grade“ allenfalls auf diversen Liebeslagern beim Ausüben seltener Körperstellungen erworben hatte. Das alte Prinzip „was du dir erheiratest, musst du dir nicht erarbeiten“ hatte sie jedenfalls erneut mit zusätzlichem, krisenfestem Wohlstand versorgt. Zu dem trug nämlich ihr neuer, fast ein Jahrzehnt jüngerer Prinzgemahl mit der Kaltschnäuzigkeit einer just beendeten internationalen Banker-Karriere bei.
  Patrik Gogel sah die Piazza und das hufeisenförmige Ensemble rund um die Fontana, und sein Midas-Blick verwandelte es vor seinem geistigen Auge in pures Gold: die Rudimente vom Castell mit dem gegenüber liegenden Haus der „Francesa“, die Metzgerei aus dem vorvorigen Jahrhundert samt Zerwirkgewölbe und die dazwischen gequetschte Kapelle. Innerhalb von Sekunden hatte er die Summe im Kopf, die er noch herausschlagen würde, selbst wenn er seiner Königin quasi als Abfallprodukt auch wieder eine neue, hochherrschaftliche Residenz – diesmal aber am Meer - kaufen würde.
 
  Die ehemalige „dottoressa sesso“ jedenfalls war nun voller Inbrunst und Leidenschaft Bankiersgattin Gogel. In Erkenntnis eigener fortschreitender Reife hatte sie sich, um den Altersunterschied auszugleichen, in diesen Jahren einen gewagten Farb-Code verschrieben. Eine Vorliebe für den Farbton Purple sollte visuell das anregen oder erregen, was die unsichtbaren und immer noch reichlich verschütteten Botenstoffe nun nicht mehr so hergaben. Obwohl sie dazu auch noch signalisierte, vollen Körper-Einsatz leisten zu wollen, blieb allen außer Patrik Gogel nicht verborgen, dass das ganze immer mehr zu einer Parodie auf Laszivität geriet.
  Halt, das stimmt nicht ganz. Johannes Goerz, der sie ja nicht von früher kannte und - gleich alt – die Tragik nachlassender sexueller Attraktivität am eigenen Leib nachvollziehen konnte, fuhr vom ersten Blick voll auf sie ab. Er nannte sie unpassend  My Purple Heart, schenkte ihr CDs von Deep Purple und ein Video von „Jimmy plays Monterey“ auf dem Hendrix die lange Version von Purple Haze zum Besten gab. Die purplefarbene Gel-Frisur, die langen, künstlichen Finger- und Fußkrallen sowie dazu passend Lippenstift und hauchzarte Jeans aus Satin oder Saffian im gleichen Farbton lösten bei dem Schreiberling auch noch ganz andere vorpubertäre Reaktionen aus.
  Gogel, der Goerz aus gemeinsamer beruflicher Vergangenheit kannte, boten diese jedenfalls die Initialzündung  für ein Bomben-Geschäft. Er nutzte das Überreizen seiner welkenden Venusfalle, indem er sie noch einmal zu voller Blüte anstachelte. Obendrein hatte Frau Gogel aber nicht nur ein Händchen, oberflächliche Verschönerungen an der eigenen Person vor zu nehmen. Was sie mit wenigen Tricks aus dem Haus der „Francesa“ bis zum Ablauf der Spekulationsfrist gemacht hatte, war innenarchitektonische Bauernfängerei vom feinsten. Goerz, der die Trennung von seiner Familie gerade hinter sich hatte und dessen offene Wunden eines über Nacht von Geschäfts- und Vertragspartnern brutal herbei geführten Buyouts nicht verheilen wollten, war zudem ein willfähriges Opfer.
  Er war einen Sommer lang von Port Bou an der spanisch-französischen Grenze nach Porto Venere am Ende der Cinque Terre entlang  des Mittelmeers gereist, um sich in selbstmitleidiger Larmoyanz einen Platz zu suchen, an dem er sterben wollte. Als ihn Gogel am Handy erreichte, war er schon dabei, unverrichteter Dinge in eine Heimat ohne Heim zurückkehren:
  „Suchen Sie immer noch ein Haus im Süden?“
  „Ja. Allerdings wollte ich gerade aufgeben.“
  „Wo sind Sie denn im Moment?“
  „In Porto Venere am Hafen. Preise haben die hier!“
  „Was wollten Sie denn anlegen?“
  „Na ja, maximal 300 000 Mark. -  Renovierung und Umbauten inklusive!“
  „Bei unserem Haus könnten Sie ohne weiteres sofort einziehen.“
  „Wieso wollen Sie denn verkaufen?“
  „Meine Frau will unbedingt einen Garten. Ein älterer Herr verkauft sein Haus hier am Ortsrand - eine Gasse weiter. Wir wären Nachbarn. Schauen Sie sich’s an! In weniger als drei Stunden könnten wir hier auf unserer Terrasse bei einem eiskalten Vermentino den Sonnenuntergang genießen. Mit dem Preis werden wir uns dabei sicher einig.“
  „Wo sind Sie denn?“
  „In Castellinaria oberhalb von Imperia. Mitten in einem Kastell umgeben von endlosen Olivenhainen. Es wird Ihnen die Sprache verschlagen.“
  „Castellinaria? Heißt das nicht sinngemäß Luftschloss? – Wenn das mal kein böses Omen ist…“, lachte Goerz  mit überzogener Heiterkeit.
 
  Gogels Kalkül ging auf. Die spektakuläre Aussicht von seiner Terrasse über vier Täler und ein Dutzend noch  tiefer gelegene Bergnester knockte Johannes Goerz an. Der Anblick von Frau Gogel jedoch schickte ihn  sinnbildlich auf die Bretter. Diese kaschierende Verplankung der Terrasse hatte die Purple Lady eigenhändig frisch schwarzbraun lackiert, um davon abzulenken, wie marode der Freisitz in Wirklichkeit war. Das Schwarzbraun kontrastierte obendrein genial ihre Purple-Aura.
 
  Anfang September saßen sie schon zu Dritt beim Notar, wo 150 000 Mark – der verbriefte und später ermittelte,  tatsächliche Wert – in Form von registrierten Bankschecks über den Schreibtisch gingen. Als der Notar kurz mal auf Toilette ging, ließ Gogel weitere 140 Tausender in seinem Aktenkoffer  verschwinden. Goerz  hatte sie ihm, in der Auffassung ein gutes Geschäft gemacht zu haben, nach tolerierter, alter italienischer Steuer-Sitte  bar - und für  Gogel natürlich schwarz - mitgebracht.
  Am  11. September flogen die Flugzeuge ins World Trade Center. Am 12. November kam ein Kälte-Einbruch und es begann zu regnen; vier Tage wie aus Eimern. Die angeblich neue Gasheizung gab ihren Geist auf. Wasser brach über die Terrasse und das Treppenhaus ins Esszimmer und riss die halbe Decke samt der Verschleierung aus billigem Samt mit sich. Ein Wasservolumen von einem Dutzend randvoller Badewannen musste aus dem Stockwerk geschöpft werden. Von den ungezählten Litern, die in die neunzig Zentimeter dicken Trockenmauern eingedrungen waren ganz zu schweigen. Aber dabei konnte Johannes Goerz auch entdecken, dass die dekorativ gebogenen und ziselierten, schmiedeisernen Vorhangstangen unter den Saal hohen Decken in Wirklichkeit an den Enden gold lackierte, schwarz angemalte Armiereisen waren.
  Zu Weihnachten gab es passend auch noch ein sakrales Erlebnis. Als der Autor im Rundgewölbe seines Arbeitszimmers ein Regal aufhängen wollte, brach eine Teller große, vielschichtige Scholle Putz aus der Wand. Dahinter trat deutlich ein altes Fresko mit christlichen Motiven ans Tageslicht. Goerz war kein Experte, wie alt und wichtig es sein mochte. Aber italienische Denkmalschützer, die seine mittelalterliche Bruchbude nach geltendem Recht auf seine Kosten okkupieren konnten, bis die Provenienz gesichert war, wollte er sicher nicht konsultieren. Der Hand eines heiligen Mannes folgten unter seinen wütenden Hammerschlägen ein Stück Heiligenschein, der Turm einer brennenden Kirche, sowie ein Fluss mit Kähnen drauf. Und von  der Gewölbedecke fielen einige Engel aus einem überputzten, blauen Himmel oder ließen brüchig Federn. War das in den Anfangsjahren des Gemäuers vielleicht die Hauskapelle gewesen? Ein vermutlich unwiederbringlicher Schatz ging da Schlag auf Schlag verloren. Selbst den erklärten Agnostiker  Johannes Goerz überkam bei seinem Tun und aller Wut auf die Gogels massiv das schlechte Gewissen.
  Und dann galt ab 1. Januar 2002 der Euro…